Was macht Oikocredit in Brasilien?

Was macht Oikocredit in Brasilien?

Nicolas Viedma_OikocreditMontag 16 August 2021

Während die Zahl der Milliardäre in Brasilien laut Forbes-Magazin im Corona-Jahr 2020 um 44 Prozent stieg, ist die Ernährungssicherheit im Land auf rund 44 Prozent gesunken. KleinbäuerInnen, die Zweidrittel der Lebensmittel erzeugen, kleine und mittlere Unternehmen, die entscheidend zur Wirtschaft beitragen, bekommen kaum Unterstützung und verantwortungsvolle Finanzierungen. Viel zu tun für eine soziale Investorin. Was macht Oikocredit in Brasilien?, wollten wir von Nicolas Viedma wissen, der seit zwei Jahren das Länderbüro in São Paulo leitet.

Nicolas, wo treffen wir dich gerade an?

Nicolas Viedma: Während der Corona-Pandemie arbeiten wir soweit wie möglich von Zuhause aus. Ihr trefft mich also im Homeoffice an. Ich lebe in São Paulo, der größten Stadt Brasiliens. In der Metropolregion wohnen 20 Millionen Menschen, elf Millionen direkt in der Stadt. Wir sind downtown, mittendrin. Vom Fenster meiner Wohnung im 17. Stockwerk aus sehe ich eine Menge wirklich hoher Gebäude. Direkt gegenüber liegt das Krankenhaus, in dem meine Frau arbeitet, in der Notaufnahme. Es ist ein großes privates Hospital, die Situation ist nicht so erschreckend wie anderswo, aber auch dort ist die Auslastung der Intensivstationen immens hoch. São Paulo ist von Covid-19 besonders betroffen, die Zeiten sind hart. Wie in ganz Lateinamerika wird in der Pandemie überdeutlich, wie stark die gesellschaftliche Ungleichheit ist. Die Zahl der Armen, die unter der Armutsgrenze leben, hat sich während der Pandemie verdoppelt.

Wie ist die Situation im Oikocredit-Länderbüro Brasilien. Ist die Nachfrage nach eurer Arbeit, nach Finanzierungen durch die Pandemie gewachsen?

Nicolas Viedma: Momentan hat unser dreiköpfiges Team mehr Anfragen von Organisationen, die mit uns zusammenarbeiten wollen, als wir befriedigen können. Das war einmal anders, vor ein paar Jahren waren häufiger wir es, die Partner suchten. Der Bedarf an Finanzierungen wächst. Ein Grund dafür ist, dass die Organisationen wissen, dass sie nach der Pandemie externe Finanzierungen brauchen werden. Es gibt zwar eine gut aufgestellte staatliche Entwicklungsbank, die allein kann das aber nicht leisten, die Konzentration wäre auch viel zu groß. Das heißt, unsere Arbeit ist gefragt. Aber nicht alle Organisationen sind im Bereich der sozialen Wirkung schon so weit, dass sie für uns infrage kämen.

Was sind das für Organisationen, mit denen ihr zusammenarbeitet? Was sind eure Pläne für Oikocredit in Brasilien?

Nicolas Viedma: Momentan haben wir in Brasilien 22 Partnerorganisationen, deren Projekte wir mit insgesamt 30 Darlehen finanzieren. Die meisten sind Mikrofinanzorganisationen, häufig Nichtregierungsorganisationen, traditionelle Graswurzelorganisationen. Unsere Hauptaufgabe sehen wir darin, das soziale Wirkungsmanagement verstärkt auf ihre Agenda zu setzen. Die meisten Partner sind offen dafür, aber sie haben nicht die Größe, die wir gerne hätten. Sie haben Kredite in Höhe von einer halben Million oder einer Million Dollar. Darum haben wir seit 2017 begonnen, verstärkt mit Kreditkooperativen zusammenzuarbeiten. Sie sind größer und sie sind schon durch ihre Organisationsform aufgeschlossen, mehr für die soziale Wirksamkeit zu tun.

Da auch für die künftige Arbeit von Oikocredit International ein stärkerer Bezug zu den jeweiligen lokalen Gemeinschaften diskutiert wird, machen Partnerschaften mit Kooperativen doppelt Sinn. Über sie ist der Zugang zu den Gemeinschaften leichter, sie sind in den Communities verortet und daran interessiert, lokale Probleme zu lösen. Daran können wir anknüpfen.

Im laufenden Jahr haben wir bereits an zwei Kreditkooperativen Kredite ausgezahlt, die beide recht groß und gut eingebettet in ländlichen Gebieten im Süden sind. Dort sind Genossenschaften traditionell stärker. Es gibt funktionierende Netzwerke, die zunehmend wachsen. Zudem unterstützt die Zentralbank die Entwicklung von Kooperativen.

Innerhalb von drei Monaten hat unser Länderbüro 8 Millionen Dollar für Kooperativen bewilligt. Unser genehmigtes Portfolio ist schon jetzt, im Juni 2021, um 40 Prozent gewachsen, sogar während der Pandemie also. Und wir wollen weiterwachsen. Nicht als Selbstzweck, sondern um mehr soziale Wirkung zu erreichen. Wer mit uns zusammenarbeiten will, braucht neben dem wirtschaftlichen einen sozialen Plan. Das ist verpflichtend. Wir unterstützen die Partner dabei, den zunehmend zu stärken und zu differenzieren. Davon profitieren beide. Wir wollen, dass die Partner ihr soziales Wirkungsmanagement verbessern, die Partner wollen sich so weit wie möglich vom traditionellen Bankenmodell entfernen, das sie als ausgrenzend erleben.

Wer ist euer jüngster Partner und wie arbeitet er?

Nicolas Viedma: Unser jüngster Partner ist Cresol, eine Kooperative von Spar- und Kreditgenossenschaften mit einem Netzwerk von über 80 Genossenschaften landesweit. Wir arbeiten mit zwei dieser Genossenschaften, Cresol Tenente Portela und Cresol Centro Sul, direkt zusammen. Ursprünglich hat sich Cresol ausschließlich an ländliche Bevölkerung gerichtet. Weil der Bedarf in den Städten aber wächst und viele Menschen zwischen Land und Stadt pendeln, engagiert sich der Verband inzwischen auch dort und bedient vor allem kleine und mittlere Unternehmen.

Uns gefällt, wie Cresol arbeitet. Man nutzt zwar auch digitale Techniken, arbeitet aber über ein Netz von Niederlassungen, weil alle Beteiligten davon überzeugt sind, dass die persönliche Beziehung zu den KundInnen immer noch wichtig und notwendig ist. Während Banken mehr und mehr Filialen schließen, macht Cresol genau das Gegenteil. In Gegenden, die die Banken verlassen, eröffnet der Verband neue Filialen.

Ein anderer interessanter Genossenschaftspartner ist Sulcredi/Crediluz, der zusätzlich zu seinem Kerngeschäft auch nicht-finanzielle Leistungen anbietet. Beispielsweise können alle Mitglieder eine bestimmte Anzahl medizinischer Dienste nutzen, die die Kooperative bezahlt. Sie ermöglicht zudem günstigeren Zugang zu den Produkten von Telekommunikationsfirmen auf dem Land, die ihre Monopolstellungen dort ausnutzen und zu viel Geld verlangen.

Solche Leistungen sind bei traditionellen Banken unvorstellbar. Das Finanzsystem in Brasilien ist auf wenige Banken konzentriert. Fünf Banken bestimmen 80 Prozent des Finanzsystems. Sie haben zwar eine große Kundenbasis, aber sie bieten keine Qualität beim Service, keine verantwortlichen Finanzdienstleistungen, obwohl zwei der Banken öffentlich sind. Häufig sind die Kosten zu hoch. Diese Banken sind sehr, sehr profitabel. Aber für die Menschen, die Finanzdienstleistungen brauchen, ist die Konzentration ein großes Problem.

Ist das die Lücke, in der sich für soziale Investoren wie Oikocredit neue Gelegenheiten ergeben – oder ist es eher schwierig, diese geschlossene Gesellschaft aufzubrechen?

Nicolas Viedma: Momentan fördert die Zentralbank die Diversifizierung des Finanzwesens. Das ist ein weiterer Grund, warum wir im Moment so viele gute neue Möglichkeiten haben zu investieren und neue Partner zu finden. Uns interessieren Kreditkooperativen und Fintech-Unternehmen. Genau diese beiden Bereiche werden seit etwa fünf Jahren von der Zentralbank gepusht. Auch Oikocredit International ist bekanntlich vor kurzem mit einer Beteiligung in das brasilianische Fintech-Unternehmen BizCapital eingestiegen, das zum Ziel hat, kleine und mittlere Unternehmen zu fördern und dadurch Jobs zu schaffen. Das Segment ist äußerst aktiv. Der Traum jedes Fintech-Unternehmens in Lateinamerika ist es, entweder in Brasilien oder in Mexiko zu investieren.

Was brauchen Organisationen, mit denen ihr zusammenarbeitet, und ihre EndkundInnen in der aktuellen Situation vor allem?

Nicolas Viedma: Sie brauchen unter anderem Geld für Schulungen, Produktentwicklung, finanzielle Grundbildung und Digitalisierungsmaßnahmen. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen haben große Schwierigkeiten, an Finanzierungen zu kommen, die Lücke ist riesig. Es braucht dringend Verbesserungen bei der Wohnsituation und in der Wasserversorgung. Brasilien hat enorme natürliche Wasserreservoire, aber es wird nicht gut damit umgegangen, ähnlich wie mit den Wäldern im Amazonas. Bisher bekamen beispielsweise die ProduzentInnen in der Landwirtschaft frisches Wasser, wenn sie zehn oder zwölf Meter tief in die Erde gingen. Jetzt müssen sie über hundert Meter graben, um an frisches Wasser zu kommen. Die BäuerInnen brauchen technische Unterstützung, Know-How und Finanzprodukte, die ihnen helfen, nachhaltiger zu produzieren.

Habt Ihr als Team direkten Kontakt zu den einzelnen Kooperativen und den EndkundInnen?

Nicolas Viedma: Wenige Wochen vor Ausbruch von Corona haben wir zwei Wochen im Süden in der Region der neuen Partner verbracht. Wir gehen bei solchen Besuchen in die Filialen und sprechen dort mit MitarbeiterInnen und KundInnen, um etwas über ihr Leben zu lernen und zu erfahren, was sie brauchen. Diesmal hatten wir die Gelegenheit, am Vortreffen zur Jahresversammlung der Organisationen teilzunehmen und Oikocredits Arbeit vorzustellen. Rund 400 Genossenschaftsmitglieder waren gekommen, meistenteils ProduzentInnen in der Landwirtschaft, im Obstanbau, in Viehzucht und Milchwirtschaft, kleine lokale UnternehmerInnen. Sie saßen mit verschränkten Armen da. Daran sind wir gewöhnt. Sie sind skeptisch. Sie sehen in uns die klassischen Banker aus der Metropole, die ihnen etwas anbieten oder andrehen wollen, das von ihren Bedürfnissen weit entfernt ist. Ich verstehe das. Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Wenn wir ihnen dann etwas über die Geschichte von Oikocredit erzählen, über ihr Vorgehen und ihre genossenschaftliche Struktur, dann werden die Menschen aufgeschlossen und fangen an zu lächeln. Das ist das Schöne an unserer Arbeit.

Was sind in deinen Augen momentan die wichtigen Themen für Brasilien?

Nicolas Viedma: Spontan: Ein besserer Umgang mit der Natur, der Schutz der natürlichen Ressourcen und der menschlichen und kulturellen Besonderheiten. Für mich müsste die Black Lives Matter-Bewegung hierzulande noch viel mehr Bedeutung bekommen. Aber es ist viel in Bewegung. Noch vor fünf Jahren haben sich Afrobrasilianerinnen dafür geschämt, dass sie lockige Haar haben. Heute gibt es Kosmetikmarken, die gezielt gegen Diskriminierungen aktiv sind. Vieles, was heute als nationale Kultur gilt, ist aus Afrika, Europa und Asien gekommen und integriert worden. Es geht darum, empfänglich zu sein für diese Veränderungen, und zwar immer. Und gerade jetzt muss es darum gehen, auf allen Ebenen eine Transformation zu erreichen.

Vor einer Weile bin ich gebeten worden, mich an der «Economy of Francesco», einer Initiative des Papstes, zu beteiligen. Wir sind eine Gruppe von Changemakern und WissenschaftlerInnen, die sich weltweit vernetzen und versuchen, Lösungen für die drängenden Probleme zu finden. Dazu gehören auch Amartya Sen oder Muhammad Yunus, vor allem aber viele junge Menschen. Es geht um einen Wandel im ökonomischen Denken, der die Grenzen der Ressourcen berücksichtigt und den Fokus auf Menschlichkeit legt. Wir arbeiten sowohl theoretisch als auch praktisch. Zuletzt haben wir ein Sozialunternehmen in Havanna unterstützt, das Matratzen für altere Menschen bereitstellt. Für mich ist das nicht weit von meiner Arbeit für Oikocredit entfernt.

Nicolas Viedma wechselte 2015 von einer traditionellen Bank zu Oikocredit,seit zwei Jahren ist er Ländermanager für Brasilien. Viedma hat während seines Ökonomiestudiums ein Jahr in Darmstadt und Dresden gelebt.

Interview: Marion Wedegärtner (Oikocredit Westdeutscher Förderkreis e.V., Bonn).

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