Hygiene, Würde und Entwicklung (Radio Maria Schweiz)
600 Millionen Menschen in Indien haben keine ausreichende Sanitärversorgung und keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Unvorstellbare hygienische Bedingungen gefährden die Gesundheit, besonders von Kindern, und stellen eine erhebliche soziale Belastung für Mädchen und Frauen dar. Schweizer Anlegerinnen und Anleger der Genossenschaft Oikocredit schaffen mit ihrer sozialen Geldanlage Perspektiven.
- Die vollständige Sendung (28 min) vom 19. November 2017 können Sie direkt bei Radio Maria Schweiz nachhören.
- Ausgewählte Abschnitte der Sendung haben wir für Sie zusammengefasst.
Corinne Rellstab (Radio Maria): Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen dem katholischen Welttag der Armen und dem Welt-Toiletten-Tag der Vereinten Nationen?
Martin Werner (Oikocredit): Der Bezugspunkt ist die Laudato Si von Papst Franziskus. Er schreibt dort über die Probleme, die aufgrund fehlender Sanitäranlagen und Hygiene entstehen. Sehr viele Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern erleiden Krankheiten und versterben auch an diesen. Es ist ein sehr großes Problem von dem bis zu vier Milliarden Menschen betroffen sind. Hier sehe ich einen großen Zusammenhang zwischen dem katholischen Welttag der Armen und dem Welt-Toiletten-Tag der UN.
Corinne Rellstab: Wo sehen Sie einen Zusammenhang zum Thema Entwicklung?
Martin Werner: Es gibt verschiedene Komponenten die einen Einfluss auf die Entwicklung der Menschen vor Ort haben:
- Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern haben oft sehr lange Wege, um überhaupt an Trinkwasser zu kommen. Dies ist ein sehr hoher Zeitaufwand, der den Menschen für Ihre Erwerbstätigkeit fehlt oder sehr viel Energie bindet.
- Verschmutztes Trinkwasser oder fehlende Hygiene führt zu Krankheiten. Ist jemand krank, kann er in dieser Zeit kein Geld verdienen. Sein Einkommen fehlt der Familie. Gleichzeitig müssen höhere Gesundheitsausgaben getätigt werden. Das oft geringe Haushaltseinkommen wird durch Medikamente oder Behandlungen weiter reduziert.
Diese Entwicklungen schwächen Menschen extrem und verhindern eine Entwicklung raus aus der Armut.
Corinne Rellstab: Welche Rolle spielt dabei die Würde der Menschen?
Martin Werner: Ich denke, die Würde sollte man nicht außer Acht lassen. In der Schweiz oder Europa können wir uns nicht mehr vorstellen, was es heißt keine Toilette zu besitzen. Das sind unvorstellbare Zustände. Die Menschen verrichten ich Geschäft in der Öffentlichkeit, gehen ja aufs Feld oder auf die Straße. Das ist ein riesiger Schamfaktor. Wir können uns das auch nicht vorstellen. Wir würden auch nie in der Öffentlichkeit das Geschäft verrichten, sondern es ist sehr viel mit Privatsphäre, Würde und Scham verbunden. Diese Schambehaftung aufgrund fehlender Sanitäranlagen ist ein sehr großes Problem insbesondere für Frauen. Wir kennen Berichte über sexuelle Belästigungen oder Vergewaltigungen.
Corinne Rellstab: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Gesundheit und Sanitäranlagen?
Martin Werner: In der Regel steht die Frau für Gesundheit, die Familie und die Kinderbetreuung ein. Wenn fehlende hygienische Bedingungen zu Hause vorherrschen, weil sie nicht das Geschirr abwaschen, sich selbst nicht reinigen können oder kein sauberes Trinkwasser für die Ernährung haben, beeinträchtigt dies die Gesundheit stark. Die Folge sind Krankheiten und daraus resultierende Todesfälle, insbesondere bei Kindern.
Corinne Rellstab: Wie engagiert sich Oikocredit im Bereich Sanitärwesen?
Martin Werner: Bei Oikocredit ist immer die zentrale Frage, was brauchen die Menschen in den Entwicklungsländern, was brauchen die Menschen vor Ort und wie können wir einen Beitrag dazu leisten? Wir haben als Organisation die Möglichkeit soziale Kredite zu vergeben und Bildungsprogramme durchzuführen. In Indien haben wir das Problem im Jahr 2011/2012 erkannt. In Indien haben ungefähr 90 Prozent der Menschen keinen Zugang zu Toiletten. Oikocredit hat dann entschieden ein dreijähriges Programm für Wasser und Sanitär aufzugleisen. Diese umfasste verschiedene Maßnahmen wie die Vergabe von Kleinstkrediten für den Bau von Toiletten durch regionale Oikocredit-Partner sowie die Frage, wie die Menschen vor Ort auf das Problem hingewiesen werden.
Corinne Rellstab: Wie muss man sich die Zusammenarbeit mit Partner vorstellen und welche gemeinsamen Ziele existierten?
Martin Werner: In diesem Projekt ging es um die Vergabe von Kleinkrediten und die Zusammenarbeit mit sogenannten Mikro-Finanzorganisationen in Indien. Sie müssen ich das so vorstellen: Oikocredit verleiht diesen Partnern größere Summen an Geld und diese Partner teilen die Summe in kleine Portionen auf um beispielsweise einer Familien den Bau einer neuen Toilette zu finanzieren.
Es gab drei Ziel in dieser Zusammenarbeit:
- Das eine war ein Bildungsprogramm anzubieten, um überhaupt ein Problembewusstsein zu schaffen. Das betrifft die Bevölkerung und auch die Mitarbeiter der Mikro-Finanzorganisationen. Denn es hatte sich gezeigt, dass diese Organisationen keine passenden Angebote für ihre Kunden hatte, weder Kredit- noch Bildungsangebote
- Das zweite Ziel war die aktive Einbindung dieser Partner, sie zu ermutigen Angebote an ihre Kunden zu machen und zu begleiten.
- Der dritte Schritt war die technische Hilfe vor Ort. Wie können die Menschen mit Unterstützung von Handwerkern ihre Toiletten selber bauen und unterhalten? Mit diesem Projekt wollten wir 110.000 Menschen erreichen, nicht nur für Wasser- unser Sanitärwesen, sondern das Projekt beinhaltete auch die Förderung erneuerbarer Energien. Tatsächlich wurden 230.000 Menschen erreicht. Der am meisten nachgefragte Kredit war der Kredit für Toiletten.
Anschliessend wurde ausgewertet, ob die Ziele nur auf dem Papier erfüllt wurden oder tatsächlich das Leben der Menschen verändert haben. Dafür habe ich einen Fall der Familie von Matari mitgebraucht. Sie hat drei Kinder und eines der Kinder hat gesagt, ich bin jetzt alt genug. Ich halte diese Zustände ohne Toilette zu Hause nicht mehr aus. Ich gehe zur Schule, aber ich gehe jetzt, ich wohne bei meiner Großmutter in der entfernten Stadt. Erst als die Familie entschieden hat eine neue Toilette zu bauen, ist die Tochter wieder zurückgekommen. Es hat funktioniert.
Corinne Rellstab: Wie hängen Krankheit, Hygiene und Würde zusammen?
Martin Werner: Sie müssen sich einmal vorstellen wie es ist, keinen Zugang zu einer Toilette zu haben. Susila, eine Kredit-Kundin aus Indien beschreibt sehr eindrücklich was dieser Zustand für sie bedeutet. Sie sagt: «Stell dir doch mal vor, was du tust, wenn du Schmetterlinge im Bauch hast.» Du hast ein Bedürfnis und kannst aber nicht bis zum Abend warten. Das heisst de facto, sie können nur auf Toilette gehen, wenn es draußen dunkel ist. Die Dunkelheit bietet ihnen einen als Frau einen gewissen Schutz. Sie sind gezwungen ein natürliches Bedürfnis über mehrere Stunden unterdrücken.
Stellen Sie sich das einfach mal bei uns vor? Sie können den ganzen Tag nicht auf Toilette gehen, Sie dürfen einfach nicht. Was machen bei einer Magenverstimmung? Ich kann mir das nicht vorstellen. Es ist unglaublich und sie so sagst Sie dann auch, wie erleichtert sie wirklich ist nachdem sie diese neue Toilette hat.
Also wir können uns das schwer vorstellen, weil das für uns eine Selbstverständlichkeit ist. Man kann es vielleicht ein bisschen vergleichen, wenn man in einer fremden Stadt ist, in einem fremden Land, man versteht die Sprache nicht und man braucht eine Toilette. Wie schwierig das teilweise ist, weil eben keine öffentlich zugänglichen Toiletten mehr vorhanden sind oder Sie brauchen auf einmal fremde Währung, um eine Toilette benutzen.
Den Luxus den wir in Europa geniessen, ist ein Luxus der Minderheit. Die Mehrheit der Menschen auf der Welt hat diesen Luxus nicht und leidet tagtäglich unter diesen Zuständen.
Corinne Rellstab: Was können wir zu einer Verbesserung beitragen?
Martin Werner: Oikocredit bietet die Möglichkeit an, dass Sie für sich selbst oder als Geschenk für Enkel- oder Götti-Kinder ab 250 Franken eine Geldanlage tätigen. Ein Teil dieser Gelder wird für Sanitär- und Hygieneprojekte verwendet. Das ist eine konkrete Option, die wir anbieten, also eine soziale Geldanlage, um Menschen in Entwicklungsländern ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Das ist eine Möglichkeit mit 250 Franken Gutes zu tun und Sie bekommen auch noch eine kleine finanzielle Entschädigung für das Engagement.